" BIS ZUM HORIZONT IST ES EINE DREIVIERTELSTUNDE"
von Jochen Wegner ::: Erschienen am Samstag, 17. Mai 2003 @ 16:10:16 CEST
Publiziert im Buch "Wasser", Herausgegeben von Manfred Bissinger, Hoffmann & Campe
|
48 Jahre ist Kapitän Heinz Aye zur See gefahren. Er hat Packeis überstanden, eine Monsterwelle, die Adoptionsrituale der Kawaliwu und einen spontanen Durchbruch des Eisernen Vorhangs. Nach 39 Erdumrundungen lebt Aye widerwillig auf dem Trockenen und denkt zurück an sein Leben mit dem Wasser.
Gerade noch hat es ihn, den letzten Sproß eines alten Piratengeschlechts, an fremden Küsten ausgespuckt, auf allen Kontinenten und allen Inselgruppen des Planeten, 39 Mal hat Aye ihn umrundet, und dabei nur Helgoland ausgelassen. Die Maori haben ihn zum Ehrenhäuptling ernannt, die Menschen auf Banda Island und Flores Island gleich adoptiert, teils unter wüsten Ritualen, über die er bis heute mit niemandem redet. Der Kapitän umfuhr die Schulter des Südpols und forderte das tödliche Packeis der Nordwestpassage zum Ringkampf, immer wieder, wie keiner vor ihm. Am Amazonas sah er rosa Delphine und fütterte am Nordpol verhungernde Eisbären. Mit entführten Amerikanern brach er heimlich durch den Eisernen Vorhang, bis nach Sibirien. Am Ende aller Tage, auf der letzten Reise des Kapitän Heinz Aye, wollte das Wasser seinen treuen Begleiter zu sich holen. Es zerschmetterte sein Schiff mit 137 Passagieren an Bord, mit einer jener geheimnisvollen Monsterwellen, die es nicht geben darf, an deren Existenz Aye selbst bis heute kaum glauben will. Der Kapitän und alle Passagiere haben überlebt, und so sitzt der 66-jährige Rentner mit Silberhaar, weißem Sweatshirt und Pantoffeln in einem Apartment mit Waldblick vor einem Stapel Memoiren: Wollen Sie ein Glas Wasser? Der Bauch des Kapitäns (er sagt: Kap-tehn wölbt sich stattlich, Aye hält sich ein wenig gebeugt. Er fühlt sich nicht ganz wohl hier, klagt über die tatsächlich - Landratten, so heißt das unter Seeleuten, die keine Weite kennen und immer alles absperren, sogar die Anschlüsse der Waschmaschinen im Keller. Sein Auto ist in der Werkstatt, die Weite heute besonders fern. Ich bin jederzeit einsatzfähig, hat er seine alte Reederei wissen lassen, die Hapag-Lloyd in Hamburg (Hamburch. Wenn einer ausfällt, kann ich vielleicht einspringen, stellte man ihm in Aussicht, Aye betont dies öfter, aber wann fällt da schon mal einer aus. Den Vormittag hat er sich freigehalten, um vom Leben mit dem Wasser zu berichten. Okeh, jah, achso, ist seine Antwort auf die erste Frage, in diesem authentischen Hamburger Idiom, das er sich, in Hessen aufgewachsen, einst mühsam antrainieren mußte. Dann erzählt Aye fast sieben Stunden lang, unterbrochen nur von einer Ration roher Karotten, Knäckebrot und einigen Schlucken Wasser. Seine Stimme donnert jetzt wie auf der Brücke, Ayes Hand schlägt dazu im Takt der einzelnen Silben auf den Tisch, so daß manche Stellen der Tonbandaufzeichnung später schwer zu verstehen sein werden. Auf seinem Sweatshirt ist das Wappen der Bremen zu sehen, seines ehemaligen Expeditionsschiffs der Eisklasse 1A , S steht für Super. Heinz Ayes Augen sind blau, natürlich, seine Haut besitzt diese Bräune, die nie wieder verblassen wird, und mit dem Lächeln und den weißen Haaren erinnert er einen Moment an Hans Albers, ganz bestimmt. Und, Ehrenwort: Er duftet nach Old Spice dem Rasierwasser mit dem Segelschiff.
Die Geschichte des Heinz Aye beginnt, wo sie endet: auf der Feste. In Ohrdruf bei Thüringen kommt er zur Welt, nördlich des Äquators, im tiefsten Binnenland. Von dort werfen die Kriegswirren seine Familie erneut aufs Trockene, nach Kronberg im Taunus. Seit Jahrhunderten ist niemand von den Ayes zur See gefahren. Der Vater, ehemaliger Berufssoldat, arbeitet in einer Kolbenfabrik. Heinz Aye besucht das Realgymnasium und könnte wohl Zahnarzt werden, Anwalt oder Kolbeningenieur. Dann, während der Mittleren Reife, kommt jener Brief, der sein Leben wendet. Die Versetzung des Schülers Aye, heißt es darin, sei nicht gefährdet, sie sei ausgeschlossen. In Mathematik werde er eine Fünf erhalten. Die Zweien von Singen, Turnen, Zeichnen und Volkstanzkreis sind bereits verplant, um weitere schlechte Zensuren auszugleichen. Von der Schule fliegen, dröhnt Aye, 1953 war das eine Blamage in höchster Potenz. Auf eine kühne Idee, wie er der drohenden Schande entgehen kann, bringt ihn der Sohn des örtlichen Zahnarztes. Er, der Zahnarztsohn, wolle Schiffsoffizier werden - - Das ist es, denkt sich auch Aye, eilt spätabends nach Hause, weckt seine Mutter und führt ihr seinen soeben gefaßten Lebensplan aus. Du hast Fieber, geh schlafen, sagte sie, erinnert sich Aye. Sein Vater meinte: Du ergreifst einen anständigen Beruf, nicht Seemann, das ist das Letzte. Die zentralen Punkte der darauffolgenden Predigt kann Aye noch heute herunterleiern:Al-ko-hol-sy-phi-lis-be-trun-ken-täto-wierun-gen-das-ist-das-letz-te. Was die Leute halt so aus Romanen wußten. Zur Abschreckung genehmigen die Eltern dennoch einen dreimonatigen Vorabkurs auf dem Schulschiff Deutschland. Herr Schulz, irgendein Nachbar, der aus Hamburg stammt, besorgt dazu die notwendige Bürgschaft von irgendeinem Kapitän Jansen:Die Hamburg-Amerika-Linie ist bereit, nach Beendigung Ihrer Ausbildung bei dem deutschen Schulschiff Sie für die nautische Laufbahn in ihre Dienste zu nehmen. Vorraussetzung dafür ist selbstverständlich die Fortbildung normaler Verhältnisse Heinz werde wohl in drei Wochen wieder zu Hause sein, meint Vater Aye noch, bevor sein Sohn, der Versager, zum Wasser hin aufbricht und erst 48 Jahre später wieder ausgespuckt werden wird auf die Feste, nach Bad Orb, dort ist der Alterssitz seiner Eltern.
Kar-tof-feln-schä-len-mes-sing-put-zen-mes-sing-put-zen-kartof-feln-schä-len-bet-ten-ma-chen-ka-ker-la-ken-tö-ten. Also leiert Heinz Aye die Aufgaben eines Schiffsjungen herunter, auch:Moses, Decksjunge. Die ersten drei Tage bei der Hamburg-Amerika-Linie ist er so seekrank, dass ich nicht mehr stehen konnte, ich dachte, das bringt mich jetzt um. Und dann die viele Arbeit, das war ungewohnt Die Matrosen treten ihn, in den Arsch, bei jeder Gelegenheit. Der hessische Dialekt des neuen Decksjungen, der noch nie auf See war, reizt sie: In einer Woche hatte ich alles Hessische abgelegt, hahoaschemal, die haben mich vielleicht zur Sau gemacht. Ein Bild aus jener Zeit zeigt einen blassen 16-jährigen Aye auf einem Ruderboot, ein dünner Junge, unsicher in die Kamera blickend, hinter sich das übermächtige Schulschiff mit schwellenden Segeln. Größer als die Qual ist nur die Scham, die ihn davon abhält, zu seinen Eltern zurückzukehren und zu den alten Freunden, gar zur Schule. Jahre hadert Aye mit seinem Schicksal und macht dabei irgendwie Karriere: vom Jungmann (55 Mark Monatslohn, 55 Pfennige pro Überstunde) zum Leichtmatrosen (95 Mark), über den Vollmatrosen (125 Mark) zum OA (Offiziersanwärter, 220 Mark mit Überstunden). Der Verlierer mit dem Gnadenzeugnis quält sich gewissenhaft durch die Mathematik, die ganzen Gestirne, sphärische Geometrie hin und her. Nach zwölf Semestern an der Seefahrtsschule erhält Heinz Aye ein Kapitänspatent mit Auszeichnung. Als Jahrgangsbester wird er vom Hamburger Bürgermeister empfangen, Kapitän, das war irgendwer vom Himmel. Die Kriegsmarine umwirbt ihn, aber dieser ganze Zinnober mit den Streifen und Sternen, das hat mich nie interessiert. Ihn interessiert Wasser. Fast jeden Morgen steht er jetzt alleine auf der Nock, dem Balkon des Brückenhauses, und blickt auf die See: Wasser zu sehen, den Horizont zu sehen und zu wissen, mit dem Schiff ist das nur eine Dreiviertelstunde, aber dahinter geht es weiter, da ist keine Wand, das ist ein Gefühl der Freiheit, mit nichts zu vergleichen. Zunächst fährt Aye auf Frachtschiffen für die Hamburg-Amerika-Linie: Sechs Tage, acht Stunden, fünfzehn Minuten. Das ist die Fahrtdauer von Hamburg nach New York. Sechs Tage, acht Stunden, fünfzehn Minuten, bei Windstärke eins oder zwölf, wir waren pünktlich. Ein Glücksfall verschlägt ihn als Aushilfe auf ein Passagierschiff, dort gefällt es ihm besser. Mit 34 Jahren erhält er ein eigenes Kommando. Man muß tanzen können, antworte er stets auf die Frage von Frauen, die nach den Qualifikationen eines Kapitäns für Passagierschiffe fragen. Das klinge locker und relaxt. Die wahre Antwort klingt nicht so locker:Ich liebe Menschen. Ihnen will Aye das Wasser zeigen. Es soll ihm gelingen wie keinem anderen.
Bald zieht es den Kapitän auf großer Fahrt in extreme Regionen. 1985 nimmt er mit einem Passagierschiffs die Nordwest-Passage, danach weitere vier Mal, sie werden sonst keinen finden, der sie auch nur zweimal bezwungen hat. Hunderte haben auf dem eisigen Seeweg zwischen Europa und Asien ihr Leben gelassen, erst Amundsen gelang 1906 in einer dreijährigen Odyssee die Durchfahrt, nachdem 140 Schiffe gescheitert waren. Kalamitäten auf solchen Reisen scheinen Aye eher zu elektrisieren, so wie die bei einer der Nordwest-Passagen, als ihn das Packeis der Beaufort-See mit 140 Menschen an Bord einschließt, 1991, im schlimmsten Eisjahr seit zwei Jahrzehnten.In solchen Momenten muss man ganz ruhig sein, erklärt er,wenn die verängstigten Leute auf die Brücke kommen, und schauen, ob ich mich am Telefon schon von meiner Mutter verabschiede An seine Durchsage erinnert er sich noch genau: Achtung, hier spricht der Kapitän dann kam eine lange Pause, das hab ich bei einem Rhetorikkurs an der Volshochschule gelernt. Das Schiff stecke im Packeis fest, dieses bestehe zu sieben bis neun Zehntel aus neuem Eis. Besonders lange Pause. Wir haben Proviant für ein halbes Jahr an Bord. Erleichterter Applaus. Nach drei Tagen kommt Aye wieder frei und kehrt um. Ein andermal läßt er vor einem einsam driftenden Eisberg stoppen, auf dem ein verhungernder Eisbär seinem Ende entgegensieht. Um den Passagieren eine Show zu bieten, setzt Ayes Crew mit zwei Schlauchbooten über und läßt einige Eimer Fisch zurück.
Am Amazonas, im See Alter do Chão, springt er mit einem Wasserglas von der 15 Meter hohen Nock, füllt es und trinkt demonstrativ. Es ist seine Art, nörgelnde Passagiere von der Qualität des Trinkwassers zu überzeugen, das er gerade an Bord pumpen läßt. Als erster Kapitän der Welt umrundet er mit einem Passagierschiff Spitzbergen, danach weitere drei Mal, bei wenig Lotung und viel Packe. Sieben Mal umfährt er die Antarktis, befördert insgesamt 12000 Menschen auf 99 Südpol-Reisen.Angst habe ich nie gespürt, behauptet Aye, wie es sich gehört, dafür habe ich in den Momenten, wo es sich lohnt, auch keine Zeit. Er sei evangelisch getauft, ist seine Antwort auf die Frage, ob er irgendeinem Glauben anhänge. Dann schweift Heinz Aye wie so oft ab, erzählt von Nottrauungen, Seebestattungen, fliegenden Fischen, den Farben des Wassers. Ob er nun an Gott glaube? Joah, das ist so ein Respekt vor dem Wasser, sagt Aye und berichtet von der besonderen Armierung seines Schiffes, der MS Bremen, die 35 Millimeter dicke Stahlplatten besitzt, das ist Eisklasse 1A S - S steht für super. Der Glaube aneinen Steven mit 65 Zentimeter massivem Stahl ist es, der Eisberge versetzt.
Vor allem aber glaubt Aye an sich selbst. Wenn Du eine gute Seemannschaft machst, dann geht es auch der Ladung gut. Die Ladung, das sind die Passagiere. Schenkt man seinen Erzählungen Glauben, so setzt der selbstbewußte Kapitän die Ladung einmal fast aufs Spiel. 1988 liegt Aye in Alaska vor Anker, mit 90 Amerikanern an Bord. Aye steht wieder einmal alleine auf der Brückennock und blickt zum Horizont. Dann faßt er spontan den Entschluß, die nahegelegene UdSSR zu besuchen. Ich habe mich gefragt, warum können wir da nicht einfach kurz rüberfahren nach Sibirien? Es ist die Zeit von Glasnost und Perestroijka, vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Von einer Firma hat er hat die Telefonnummer des Bürgermeisters von Prowidenija erhalten, einer sibirischen Hafenstadt. Aye läßt an Land eine US-Studentin auftreiben, die russisch spricht, und nach einem einstündigen Telefonat mit Bürgermeister Oleg Iwanowitsch Kulinkin hat Aye seinen Termin in Sibirien, notiert auf einem ZettelWir lichteten die Anker, ohne uns offiziell abzumelden, gaben die Fahne der UdSSR in die Reinigung und stellten die Uhren um, erinnert er sichDen gekidnappten Passagieren erzählte ich erst auf See, was wir vorhatten Sie seien in begeisterten Applaus ausgebrochen, schreibt Aye in seinen unveröffentlichten Memoiren. Das zeigte mir, dass meine Fahrgäste wirkliche Abenteurer waren Eher schwach mit Seekarten ausgerüstet, schafft Aye es tatsächlich bis nach Prowidenija, wird statt von den angekündigten Kriegsschiffen von einem schlichten Lotsenboot empfangen. So legt dieSociety Explore als womöglich erstes Passagierschiff der westlichen Welt in Sibirien an. Dreißig Beamte kontrollieren eine Nacht lang die Papiere, bewirtet mit der ersten Coca-Cola ihres Lebens, dann dürfen die Passagiere von Bord.
Einladungen und Gegeneinladungen wechseln sich ab, Eskimochöre singen, Tränen und Wodka fließen. Bürgermeister Oleg Iwanowitsch überreicht einen Köcher, der Elfenbein-Pfeile enthält, mit denen die Eskimos einst während der Walroßjagd Informationen zwischen den Booten hin- und herschossen. Die neuzeitliche Eilnachricht der US-Behörden nach Rückkehr in westliche Gewässer fällt eher harsch aus. 85 US-Zeitungen sollen berichtet haben, meist über eine Entführung von 90 US-Bürgern durch einen deutschen Kapitän. Doch Aye behält seine Lizenz und kann die angedrohte Strafe von 25.000 Dollar, beseelt vom Geist der Völkerverständigung, auf 5.000 herunterhandeln. Die Elfenbein-Pfeile des Oleg Iwanowitsch Kulinkin, der längst von den Schrotflinten der Russenmafia durchsiebt wurde, besitzt Aye nicht mehr, sie sind an Bord geblieben. Dafür liegt im Devotionalienzimmer seiner Wohnung ein kunstvoll verzierter Walzahn aus Sibirien. Daneben ein Barograph, Modellschiffe, ein Penisköcher von den Salomon-Inseln, ein Ölbild der Schlacht von Trafalgar und die abgelegten Schulterklappen des Kapitäns. Jederzeit griffbereit im Wohnzimmer hängt ein Stammbaum, der im 16. Jahrhundert wurzelt und auf direkte Verwandtschaft mit dem Seeräubergeschlecht der van Ayen in Marne hindeutet. Der letzte Sproß des Stammbaums ist Heinz Aye, Vater zweier Töchter. Und dann sind da noch Bilder von Flores Island in Indonesien, dessen Bewohner den Kapitän einst adoptierten. Wenn ich geahnt hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich das nie mit mir machen lassen, orakelt er. Weil er die Insulaner stets mit Medikamenten beschenkte, wenn er die Region besuchte, wollten ihn gleich zwei Völker zum Indonesier machen. Die Adoptionsriten auf Banda Island seien ja ganz nett gewesen, so mit Baden und mit Blüten einreiben, berichtet Aye. Flores Island war nicht ganz so nett: Mit dem Jeep wird er in den Urwald verbracht, zum Stamm der Kawaliwu. Die Ältesten bitten ihn in ihr Männerhaus. Der Kapitän wird ausgezogen, gewaschen und bekommt zu Essen: Ich erinnere mich noch an die Augen von irgendeinem Tier, die gab es auf so Spießen. Um die runterzubekommen, nahm ich einen tiefen Zug von dem Schnaps, der durch ein langes Bambusrohr von draußen in die Hütte lief; um mich herum immer diese nackten, zahnlosen, halb verhungerten alten Männer. Später zieht man dem nackten Aye so einen Jutesack über, schmückt ihn mit Federn und bittet ihn nach draußen, wo er ein Schwein abstechen soll; er komplimentiert das Messer einem der Chiefs in die Hand. Dann tanzt er mit den Ältesten im Blut des brüllenden Tieres. Über die schlimmsten Dinge, die damals im Urwald von Flores Island geschahen, will Aye bis heute nicht reden: Das habe ich seinerzeit nicht einmal meinen Eltern erzählt, so soll es auch bleiben Er denkt noch einmal nach und versichert dann: Jedenfalls ist noch alles dran
Der Satz mag als Lebensbilanz durchgehen für den einstigen Schulversager aus dem Taunus, den Kommandanten mit dem Silberhaar, der im Februar des Jahres 2001 seine letzte Reise antritt. 38000 Passagiere hat Heinz Aye befördert, acht Paare auf See getraut und einen Toten bestattet. Der Weltmeister im Eis, Bezwinger der Nordwest-Passage, Korvettenkapitän der Bundesmarine in Reserve, Rettungsschwimmer und Ehrenhäuptling der Maori ist 65 Jahre alt geworden und soll in Rente gehen. Das Leben auf See hat ihn ein eigenes Glaubensbekenntnis gelehrt, das den Respekt vor dem Wasser und das Vertrauen auf die höchste Eisklasse umfaßt. Ein letztes Mal bricht Aye mit 137 Passagieren von Feuerland auf, eine Überraschungsparty ist geplant. Sie wird ausfallen.
Die Bremen ist auf dem Rückweg von der Anatarktis zum Karneval in Rio, als der meteorologische Dienst eine durchziehende Schlechtwetterfront ankündigt. Das Fallen des Barometers ist mit bloßem Auge zu beobachten. Für Heinz Aye kein Grund zur Besorgnis. Selbst die Extremwerte der Beaufort-Windskala hat er schon öfter erlebt, sie interessieren ihn gar nicht, sagt er, höchstens die Verzögerung im Reiseplan. Dann geschieht etwas, das er nicht kennt: Einige Meßgeräte gehen auf Anschlag, andere zeigen Windstärke 14, einen Wert, von dem Sie in den nautischen Akademien nie etwas zu hören bekommen.Die Skala des Admiral Beaufort endet bei Zwölf (Orkan, Luft mit Schaum und Gischt angefüllt, See vollständig weiß, jede Fernsicht hört auf. Das Radarbild bei Windstärke 14 ist schneeweiß, die sechs Mann auf der Brücke starren hinaus in das Treiben. Es ist der 22. Februar, 6.20 Uhr, bei 45° 54´ Süd, 38° 58´ West, als sich vor allen 17 Brückenfenstern aus dem Nichts eine gigantische Mauer fast senkrecht aus dem Wasser erhebt, dunkelgrün, hoch wie ein zwölfstöckiges Haus. Auch das hat Aye noch nie gesehen. Oh, die ist aber..., kann er noch sagen, dann bricht die Hölle los. Die zentrale Panzerglasscheibe der Brücke, so groß wie ein Busfenster, schlägt unter brüllendem Donner mitsamt ihrem Rahmen in die Decke ein und reißt die Verkleidung auf, zerschmettert die dahinterliegenden Versorgungsleitungen. Ein viereckiger Wasserstrahl schleudert die Mannschaft durch den Raum. Schon steht das Meerwasser über einen Meter hoch, schlagartig schließt es die gesamte Elektrik kurz; sämtliche Geräte sind zerstört, aus dem Radar quillt Rauch. Auch der Notstopp-Schalter für die Brennstoffzufuhr der Schiffsmotoren hat einen Kurzschluss, sie stellen prompt ihren Dienst ein. Nun treibt die Bremen manövrierunfähig im Orkan. Sofort dreht sie sich in ihre natürliche Lage, parallel zur Wellenfront, und beginnt längs der Schiffsachse zu rollen. Die Schiebetüren auf, befiehlt Aye, um das Wasser abfließen zu lassen, der 1. Offizier soll das Loch in der Fensterfront notdürftig verrammeln. Aye funkt SOS. Er gibt Befehl, die Passagiere im Speisesaal zu versammeln.
Erst nach 35 Minuten gelingt es den Technikern, die großen Schiffsmotoren trotz der mageren Notstromversorgung wieder zu starten, nach einigen technischen Kunststücken in den wunden Eingeweiden der rollenden"Bremen". Aye, der das Schiff nun notdürftig per Sprechfunkanweisung vom Heck aus steuern läßt, kann es mit dem Bug zurück in die Wellen drehen. Die grüne Wasserwand, unfaßbare 30 Meter hoch, hat die Antennen auf den oberen Decks zerstört, Liegestühle und Sonnensegel mitgenommen, im Vorderschiff ein weiteres Leck gerissen. Ich sah bereits 200 Leichen im Wasser schwimmen, wird eine Zeitschrift, die über die Beinahe-Havarie berichtet, Kapitän Aye später zitieren. Ich kann mir heute selber auf die Schulter klopfen.Zumindest eines aber hat er nicht verwunden:So eine Welle habe ich in 48 Jahren nie gesehen, und nie davon gehört, höchstens als Seemannsgarn. Als solches galten die so genannten Kaventsmänner lange Zeit unerklärliche Riesenwellen, die gleichsam aus dem Nichts auftauchen. Heute sind die gigantischen freak waves, denen zahlreiche Schiffsverluste zugeschrieben werden, Studienobjekt vieler Forschergruppen. Das war der Atem Gottes, erklärt ihm später ein Marinehistoriker. Die See wollte Dich nicht gehen lassen.
Die See ließ ihn gehen, und so endet die Geschichte des Kapitän Aye, wo sie begonnen hat: auf der Feste. Dort sitzt er bis ans Ende seiner Tage, sieht immer denselben Tannenzapfen vor dem Fenster, und versucht eine kleine Landratte zu werden. Er stehe weiterhin zur Verfügung, betont er beim Abschied, gerne auch kostenlos, ich muß nur Zahnbürste und Uniform und Fernglas einpacken. Sollte mal einer ausfallen, aber wann fällt da schon mal einer aus.